Freitag, 16. Oktober 2015

Joint Attention: Hunde beobachten soziale Interaktionen wie Menschen

In den letzten 10 bis 15 Jahren haben wir zahlreiche wissenschaftliche Experimente gesehen, die nachweisen, dass Hunde den Blicken der Menschen folgen und sich hieran orientieren. Sie tun dies mit einer Intensität wie keine andere nicht-menschliche Spezies, kein Schimpanse, Bonobo oder Wolf. Selbst Hunde-Welpen, die ohne Kontakt zu Menschen aufgewachsen sind, orientieren sich instinktiv an den Blicken des Menschen, wie im Max-Planck-Institut Leipzig nachgewiesen wurde.

Heini Törnqvist und sein Team von der Universität Helsinki gehen dieser Fragen einen Schritt weiter nach. Sie untersuchten die Aufmerksamkeit von Hunden und Menschen in Bezug auf soziale Interaktion und zwar im direkten Vergleich. Hierzu wurden mit 46 Hunden und 26 Menschen Tests durchgeführt. Die Hunde waren aus zwei Gruppen zusammengesetzt. Einerseits gut sozial eingebundene Familienhunde, andererseits Hunde aus Zwingerhaltung. Analog zwei Gruppen auch bei den Menschen: Einerseits Hunde-Experten, andererseits Leute mit wenig Hundeerfahrung. Alle Teilnehmer des Tests mussten Fotos anschauen, die einmal Menschen und einmal Hunde zeigen. Die Fotos zeigten zum einen Menschen die sozial interagieren und sich dabei anschauen, zum anderen Menschen, die voneinander wegschauen. Dasselbe bei den Fotos von den Hunden. Mit einem Eye-Scanner wurde bei Testpersonen und Testhunden gemessen, wie und wie lange diese auf die jeweiligen Fotos schauten.
Eye-Scan Beispiele (C) Törnqvist et al. 2015
Das Ergebnis war eindeutig. Menschen und Hunde verhielten sich gleich. Die Fotos mit der sozialen Interaktion wurden durchweg länger betrachtet und sehr ähnlich analysiert. Dabei nahmen sich sowohl Hunde als auch Menschen mehr Zeit, die Fotos der jeweils anderen Spezies zu betrachten. Besonders interessant: Es gab keine signifikanten Unterschiede zwischen sozial kompetenten und sozial ungeschulten Teilnehmern. Die Forscher ziehen daraus den Schluss, dass hier kein erlerntes vielmehr ein grundlegendes Verhalten zum Ausdruck kommt. Sie verweisen darüber hinaus auf eine vergleichbare Untersuchung, die zeigt, dass Kleinkinder dasselbe Verhalten wie Hunde zeigen.

Von Skleren und Joint Attention

Erst im letzten Artikel auf Petwatch hatte ich über das Buch der Archäologin Pat Shipman berichtet, das einen wegweisenden Beitrag zur Erforschung der gemeinsamen Geschichte von Mensch und Hund darstellt (The Invaders: How Humans and Their Dogs Drove Neanderthals to Extinction). In dem Artikel heißt es: "Als Brücke der Annäherung sieht Shipman die analogen, kollektiven Jagdtechniken von Mensch und Wolf und hier insbesondere die Funktion der Skleren, der weißen Fläche um die Iris der Augen, die es Mensch wie Wolf ermöglichen, die Absichten des anderen selbst aus der Ferne im wahrsten Sinne des Wortes von den Augen abzulesen." Die Untersuchung von Törnqvist und seinem Team kann als weiterer Beleg hierfür gewertet werden. Tatsächlich bieten Skleren eine gute, vielleicht sogar notwendige, Grundlage für eine wichtige psychische und soziale Funktion, die Joint Attention. Die Fähigkeit zu "Joint Attention", einer Form der non-verbalen Kommunikation insbesondere mit den Augen, ist wiederum Grundlage für komplexe kollektive Vorgehensweisen etwa bei der Jagd. Joint Attention, gleichgerichtete Aufmerksamkeit und sozial koordinierte Handlungsabläufe waren Überlebens notwendige Fähigkeiten, die vor 30.000 Jahren die steinzeitlichen Jäger-Clans wie auch die Großwild jagenden Wolfs-Rudel auszeichnete. Hier liegt aber auch ein elementarer Schlüssel für die Annäherung von Wölfen und Menschen und schließlich der Herausbildung des Hundes. Die Fähigkeit zu "Joint Attention" innerhalb der jeweiligen Spezies also innerhalb des Wolfsrudels und des Clans der steinzeitlichen Jäger entwickelte sich mit der Zeit zu einer interspezifischen Fähigkeit höher. Interspezifische "Joint Attention" ließ Wölfe und Menschen zielgerichtet untereinander kommunizieren und machte sie koordiniert handlungsfähig etwa bei der Jagd auf Großwild wie Mammuts oder Bisons.
In dem in den nächsten Tagen beim Schattauer-Verlag, Stuttgart erscheinenden Buch "Tierisch beste Freunde: Mensch und Hund - von Streicheln, Stress und Oxytocin" gehen der Autor dieses Artikels und Daniela Pörtl auf diesen Prozess weiter ein. Wir zeigen, dass in der Herausbildung der interspezifischen Fähigkeit zu "Joint Attention" eine der wesentlichen Grundlagen lag, dass aus Wölfen schließlich unsere Hunde hervorgehen konnten, dass Mensch und Wolf resp. Hund sogar echte Sozialpartner werden konnten. Die Untersuchung der Finnen belegt ein weiteres Mal, dass diese Fähigkeit auch heute noch lebendig ist. Das Wissen um diese Zusammenhänge ist nicht nur von Interesse für unsere gemeinsame Geschichte, es trägt auch zu einem tieferen Verständnis für unseren besten Freund hier und heute bei. Und es trägt auch zum tieferen Verständnis unserer eigenen menschlichen Psyche bei. Die einzigartige Mensch-Hund-Beziehung sagt mehr über uns Menschen aus als wir gemeinhin denken und manche wahr haben wollen.


Ein Artikel von Christoph Jung


Sonntag, 4. Oktober 2015

The Invaders: How Humans and Their Dogs Drove Neanderthals to Extinction

Die Anthropologie-Professorin Pat Shipman hat ein Buch veröffentlicht, das ein bemerkenswertes Schlaglicht auf die (gemeinsame!) Frühgeschichte von Mensch und Hund wirft. Unter dem o.a. Titel - zu deutsch etwa "Die Invasoren: Wie Menschen und deren Hunde die Neandertaler zum Aussterben brachten" (zZ leider nur in Englisch verfügbar) - beleuchtet sie die Phase, als die ersten modernen Menschen - unsere direkten Vorfahren - vor gut 40.000 Jahren Europa erstmals betraten und schließlich eroberten. Diese Phase ist zeitgleich die des Aussterbens einer anderen menschlichen Spezies, einer Spezies, die hier bereits seit mehr als 200.000 Jahren lebte und erfolgreich überlebte, also mehr als viermal so lange, wie wir heute. Gemeint sind die von uns nach ihrem ersten Fundort nahe Düsseldorf "Neandertaler" genannten Menschen. Und, es ist zugleich auch die Phase als die Domestikation des Wolfes, die Entstehung des Hundes begann.

Der moderne Mensch als Eindringling

Shipman beleuchtet die Entwicklung zunächst aus eher biologischer Sicht. Sie schaut auf das Ökosystem der Eiszeit in Europa, auf die endlosen eurasischen Kaltsteppen und Tundren mit ihren speziellen Pflanzen- und Tiergemeinschaften. Riesige Herden großer Säugetiere vom Ren oder Bison bis zum Mammut durchzogen die eiszeitlichen Kaltsteppen. Entsprechend gab es auch ein Vielzahl großer Beutegreifer, Prädatoren, am Ende der Nahrungskette wie Höhlenlöwen, Säbelzahntiger, Leoparden, Wölfe oder Höhlenhyänen. Und es gab einen weiteren Prädator, den Neandertaler. Dieser behauptete sich über viele Klimaschwankungen und mehr als zweihunderttausend Jahre hinweg sehr erfolgreich. Der Neandertaler war - anders als lange Zeit kolportiert - kein tumber, grobschlächtiger, primitiver Frühmensch. Wie wir heute wissen hatte er Sprache, Kultur, medizinische Kenntnisse und ein teils größeres Gehirnvolumen als der moderne Mensch. Der Neandertaler ernährte sich schwerpunktmäßig von Fleisch, das er mit seinen schweren Speeren im Nahkampf erlegte oder anderen Raubtieren abjagte. In dieses recht stabile Ökosystem drangen nun unsere Vorfahren ein. Sie waren Fremde, Eindringlinge, wie Biologen heute sagen, eine invasive Spezies.

Unsere Vorfahren veränderten schon in der Altsteinzeit das Ökosystem

Invasive Arten, gerade wenn es sich um Prädatoren handelt, können ein Ökosystem nachhaltig verändern. Shipman verweist hier auf die Erfahrungen im US-Nationalpark Yellowstone. Als man dort die zuvor ausgerotteten Wölfe wieder leben und jagen ließ, verdrängten diese zunächst den ihnen am nächsten stehenden Konkurrenten, den Kojoten. Die Folgen waren aber noch viel weitreichender. Da nun die Wapiti-Hirsche starker bejagt wurden, wuchsen viele Pflanzen besser, es entstanden einst untergegangene Wälder neu. Das hatte u.a. die Wiederansiedlung des Bibers zurfolge. Soweit nur als beispielhafter Einblick. Shipman führt aus, dass eine invasive Art am stärksten ihnen nahe stehende Arten bedrängt. So bedrängte wahrscheinlich auch der frühe moderne Mensch den Neandertaler. Die erfahrene Archäologin verweist darauf, das es allerdings kaum Hinweise gibt, dass unsere Vorfahren etwa direkt Neandertaler verfolgt und getötet hätten. Im Gegenteil, haben sie sich sogar zuweilen vermischt.

Mensch und Hund - ein unschlagbares Team seit der Steinzeit

Nichtsdestotrotz, der moderne Mensch ist nach ihrer Auffassung entscheidend dafür verantwortlich, dass der Neandertaler recht bald nach seiner Ankunft in Europa ausstarb. Hierfür sieht Shipman im wesentlichen zwei Ursachen. Zum einen die bessere Anpassungsfähigkeit und kognitive Überlegenheit unserer Vorfahren, die über modernere Waffen, insbesondere Distanzwaffen wie schlanke Wurfspeere und später sogar Speerschleudern, oder weitere Technologien wie etwa die Nadel aus Elfenbein mit der man aus den Fellen bessere Kleidung schneidern konnte. Der Durchbruch gelang unseren Vorfahren jedoch erst mit Einführung einer weiteren Innovation der Menschheitsgeschichte: Die erste Domestikation einer anderen Spezies, des Wolfes. Durch die Zusammenarbeit zweier Spitzenprädatoren, des Wolfs resp. Hundes und des Menschen, waren die anderen auf der Verliererstraße. Shipman nennt dabei die ersten nicht mehr Wolfe und noch nicht ganz Hunde vor mehr als 30.000 Jahren "Wolf-Dogs". Und tatsächlich sehen wir in der Phase nach 40.000 Jahren vor unserer Zeit ein großflächiges Aussterben von anderen Spitzenprädatoren wie Höhlenlöwen, Höhlenhyänen und eben auch Neandertaler. Primär klimatische Veränderungen als Ursache zu sehen, kann nicht erklären, warum die Fauna mit eben diesen Beutegreifern bereits etliche Klimaschwankungen über zig tausende Jahre hinweg erfolgreich gemeistert hatte.
Altsteinzeitliches Lager von Mammut-Knochen
Foto: Piotr Wojtal
Shipman führt ferner an, dass ziemlich exakt aus der Epoche des Auftauchens des modernen Menschen neue archäologische Funde gemacht werden. So Fundorte, in denen massenhaft Überreste von Mammuts liegen, 10.000 Knochen mit 150 identifizierbaren Individuen. Diese sind sämtlich dem modernen Menschen zuzuschreiben, von Neandertalern hat man bisher nur einen einzigen Mammut-dominierten Fundort in Spy/Belgien ausgegraben. Dort handelte es sich durchweg um ganz junge Mammuts/-kälber. Shipman führt diesen sprunghaft höheren Jagderfolg nicht nur auf die moderen Distanzwaffen unserer Vorfahren zurück, vielmehr auch auf die Zusammenarbeit mit den "Wolf-Dogs". Mit diesen sei es auch besser gelungen, die Beute gegen andere Prädatoren zu verteidigen und so für eine längere Nutzung zu sichern. Shipman führt noch eine Reihe weiterer archäologischer Indizien wie auch Hinweise aus der Paläo-Genetik an (Petwatch berichtete hierzu mehrfach).

Von den Augen ablesen

Als Brücke der Annäherung sieht Shipman die analogen, kollektiven Jagdtechniken von Mensch und Wolf und hier insbesondere die Funktion der Skleren, der weißen Fläche um die Iris der Augen, die es Mensch wie Wolf ermöglichen, die Absichten des anderen selbst aus der Ferne im wahrsten Sinne des Wortes von den Augen abzulesen. Der Autor dieser Rezension, Christoph Jung hat 2012 zusammen mit der Medizinerin Daniela Pörtl genau hier anknüpfend das Modell der "Aktiven sozialen Domestikation" vorgestellt, das die psychischen und neurologischen Prozesse dieser Annäherung und der besonderen Beziehung zwischen Mensch und Hund erklärt. In dem zeitnah erscheinenden Buch "Tierisch beste Freunde: Mensch und Hund - von Streicheln, Stress und Oxytocin" werden die Gesetzmäßigkeiten dieser Beziehung umfassend erläutert. Es knüpft dabei exakt an Shipmans Ausführungen an.

Das Buch von Pat Shipman ist ein spannendes, äußerst lesenswertes, innovatives Buch über die Geschichte der Menschheit und - was eben auch eine neue Sicht ist - der zugleich gemeinsamen Geschichte von Mensch und Hund seit der Altsteinzeit. Mit Shipman schließen wir mit der Frage: Ob der moderne Mensch, der sich Homo mit dem Zusatz "sapiens" schmeichelt, tatsächlich in der Lage sein wird auch nur annähernd so lange zu überleben, wie es der Neandertaler bis vor knapp 40.000 Jahren in Europa erfolgreich schaffte, wird sich noch erweisen müssen. Angesichts seines heute weltweit und massenhaft gezeigten Verhaltens sind Zweifel hieran durchaus begründbar.


Eine Rezension von Christoph Jung