Sonntag, 15. Juni 2014

Evolution - Halfen uns Hund und Neandertaler? (2)

In Teil 1 haben wir gesehen, dass der Neandertaler möglicherweise eine wichtige Rolle für den Siegeszug des anatomisch modernen Menschen (AMH) spielte. Vielleicht hatten wir sogar noch einen weiteren Helfer. Auch der Hund könnte eine Rolle als Entwicklungshelfer der Menschheit gespielt haben. Eine internationale Forschergruppe hat 2013 praktisch alle europäischen Fossilien von Hunden sowie Fossilien von Wölfen aus gleicher Zeit mit neuesten genetischen Methoden angeschaut. Dem renommierten Wissenschaftsmagazin "Science" war das im November 2013 einen Titel wert.

Die Uni Tübingen berichtet: "Danach stammen alle heute lebenden Hunde von europäischen Vorfahren ab. Die Domestikation nahm ihren Anfang im Zeitraum vor 18.800 bis 32.100 Jahren zum Höhepunkt der letzten großen Eiszeit, als europäische Jäger und Sammler die ersten Wölfe zähmten." Untersuchungsleiter Olaf Thalmann ergänzt: "Ich war verblüfft, wie deutlich herauskam, dass die heute lebenden Hunde alle auf gemeinsame Stammbäume zurückgehen, nämlich vier Abstammungslinien, die alle in Europa ihren Anfang nahmen".
SCIENCE COVER  Photo: © Barbara von Hoffmann/Alamy
30.000 Jahre Hund

Unsere Hunde begleiteten den Menschen also bereits kurz nachdem dieser Europa betreten hatte. Damals mussten sich unsere Vorfahren an Kaltsteppen und die Jagd auf Wollhaarmammuts oder Steppenwisente erst einmal gewöhnen. Wölfe jagden hier bereits seit Urzeiten. Menschen und Wölfe sind hochsoziale Jäger, die demselben Wild mit sehr ähnlichen, kollektiven Methoden nachstellen. Vielleicht hat sich der Einwanderer Homo sapiens Einiges vom Wolf abgeguckt. Vielleicht ist man sich so näher gekommen. Bemerkenswert ist allemal der Fakt, dass aus schärfsten Konkurrenten im Überlebenskampf, unmittelbaren Konkurrrenten in derselben ökologischen Nische, Konkurrenten, die sich gegenseitig (Lebens-) gefährlich werden konnten, dass aus solche Konkurrenten schließlich Partner wurden. Und das bereits vor gut 30.000 Jahren. Der Wolf sollte bis heute der einzige große Beutegreifer bleiben, der je domestiziert wurde.
31.700 Jahre alter (Proto-)Hundeschädel,
gefunden in Belgien in einer Höhle an der Maas
(c) Royal Belgian Institute of Natural Sciences -
mit freundlicher Genehmigung von Mietje Germonpré 
Kooperation bei der Jagd?

Der Wolf zählte zu den wenigen Tieren, die dem Steinzeitmenschen gefährlich werden konnten. Tatsache ist ebenfalls, dass dieser Beutegreifer zum - mit großem Abstand - ersten und zugleich am engsten verbundenen Haustier des Menschen wurde. Aus dem Wolf war schon lange der Hund entstanden, als viele tausend Jahre später erste Menschen sesshaft wurden. Höhlenmalereien zeigen bereits Hunde in Jagdszenen. Der Archäologie Professorin Pat Shipman, Spezialistin für Fossilien, ist aufgefallen, dass die Funde von Mammutknochen vor etwa 30.000 Jahren sprunghaft angestiegen sind. Sie sieht dies u.a. als Ergebnis der erfolgreicheren Jagd mit und durch den Helfer Hund. (Mehr dazu im nächsten Teil.)
Weitere Belege zur konkreten Rolle der altsteinzeitlichen Hunden haben wir bisher jedoch nicht. Mit Hilfe der Verhaltensbiologie, Psychologie und Neurowissenschaften können wir allerdings Rückschlüsse auf die Wirkmechanismen ziehen, die zur Hundwerdung geführt haben könnten.

Wir wissen, dass Wolfsgruppen gelegentlich Traditionen ausbilden, die in einem bestimmten Rudel von Generation zu Generation weitergegeben werden. Wir wissen auch, dass Wölfe sehr gute Beobachter sind. Dasselbe gilt für die Menschen der Steinzeit. Zwischen steinzeitlichen Menschenclans und einzelnen Wolfsrudeln müssen sich Traditionen der Annäherung herausgebildet haben. Man beobachtete sich bei der Jagd gegenseitig. Schließlich bezog man das Verhalten der anderen Spezies in die Überlegungen zur Jagd mit ein. Solche Traditionsbildungen zwischen zwei Spezies können auch heute noch beobachtet worden. Das "befreundete" Wolfsrudel wusste die Nähe zum Lagerplatz der Menschen zu schätzen. Menschen hatten Feuer und Waffen und hinterließen wohl auch dieses oder jenes noch verwertbare Stück von der Beute. Die Menschen wussten die Nähe dieser "befreundeten" Wölfe ebenfalls zu schätzen. Wölfe sind effiziente Jäger, wehrhaft, verfügen insbesondere über weitaus leistungsfähigere Sinnesorgane. Eine für beide Seiten vorteilhafte Kooperation entstand. Man lernte sich immer besser kennen und einschätzen. Mit der Zeit wurde der gegenseitige Stress immer weiter abgebaut. Es entstand eine gewisse Vertrautheit. Diese positiven Erfahrungen wurden von Generation zu Generation weitergegeben und epigenetisch gefestigt, während zugleich aggressive Individuen aussortiert wurden. So entstand die Basis der Domestikation.

Kooperation Mensch - Wolf als Vorteil im Überlebenskampf

Durch die Kooperation mit dem Wolf war der Mensch erfolgreicher bei der Jagd und standhafter gegenüber Konkurrenten und Gefahren. Ein Vorteil im Überlebenskampf. Zudem konnten sich die in Kooperation mit dem Wolf stehenden Menschenclans auf die überlegenen Sinnesleistungen des Wolfes stützen. Dadurch musste der AMH mit der Zeit weniger wertvolle Hirnkapazität für die Sinnesleistungen bereithalten. Diese Ressourcen konnten innerhalb der (bis heute) bestehenden anatomischen Strukturen des Großhirns umgewidmet werden. So wurden Kapazitäten etwa für die Höherentwicklung der Fertigkeiten in der Werkzeugherstellung frei. Komplexere soziale Strukturen samt der hierzu nötigen Sprache und Kultur konnten herausgebildet werden. Insgesamt wurde die Fortentwicklung des Intellekts, des Abstaktionsvermögens und damit die Fähigkeit des anatomisch modernen Mensch, die Gesetzmäßigkeiten der Natur zu erkennen, begünstigt.

Weniger Stress und höhere Leistungsfähigkeit

Neuere Erkenntnisse der Neurowissenschaften lassen einen weiteren Aspekt dieser Zusammenhänge als den potenziell wichtigsten erscheinen. Er steht in unmittelbarer Verbindung zu den eben genannten Szenarien der Kooperation Mensch - Wolf. Mit ihrer Annäherung verschob sich bei Mensch wie Wolf die Stressachse. Das Stressniveau reduzierte sich auf beiden Seiten durch das Gefühl einer erhöhten Sicherheit, engeren sozialen Eingebundenheit und der höheren Leistungsfähigkeit der Gruppe im Überlebenskampf. Soziale Hormone wie Dopamin oder Oxytoxin wurden verstärkt ausgeschüttet. Effekte einer solchen Wohlfühlsituation sind: Erhöhte Sozialkompetenz in der Gruppe, höhere intellektuelle Leistungsfähigkeit, besseres Lernverhalten, bessere Immunabwehr und eine höhere Fertilität. Diese Wirkungen der Hormone sind heute unstrittig.

Stresskiller: Kooperation Mensch-Hund

In den letzten Jahren haben mehrere Wissenschaftlergruppen die positive Wirkung des Hundes auf den Menschen bis hinunter auf diese neurobiologischen Wirkmechanismen nachweisen können. Noch ist die Stress reduzierende Wirkung auf des Hundes auf den Menschen nachweisbar. Die Auswirkungen waren für den homo-affinen Wolf noch viel weitgehender. Es entstand mehr als nur ein zahmer Wolf, er wandelte sich zum Hund. Der zum Hund gewordene Wolf wurde der engste Begleiter des Menschen und übernahm nach und nach eine schier endlose Fülle an sehr unterschiedlichen Arbeitsaufgaben für den Mensch. Vielleicht wäre auch der Schritt zur Viehhaltung ohne den Helfer Hund nie gelungen?

Vielleicht werden wir uns an den Gedanken gewöhnen müssen, dass der weltweite Siegeszug des modernen Menschen nicht allein aus der ihm gerne unterstellten immanenten oder gottgegebenen Omnipotenz rührt. Vielleicht hatte er nur das Glück, sich dieses oder jenes Helfers bedienen zu können, hatte er vor allem die Fähigkeit, von anderem zu lernen, die Offenheit auf Unbekanntes zuzugehen und Neues anzuwenden?

Im dritten Teil werden wir ein Modell vorstellen, das beschreibt, wie sich die Annäherung Mensch - Wolf und die damit beginnende Domestikation des Hundes abgespielt haben könnte.

Literaturhinweise:

Ein Beitrag von Christoph Jung