Mittwoch, 12. Oktober 2011

Frühe Verhaltensentwicklung bei einem Azawakhwurf, Teil 2/2

von Elisabeth Naumann, www.azawakhs.eu

Verhaltensentwicklung bei einem Azawakhwurf in den ersten acht Lebenswochen - ein ontogenetischer Beitrag aus der Züchterpraxis:

Untersucht wurde der O-Wurf in der VDH-Zuchtstätte >of Silverdale<, Wurftag 03.09.2010. Vater ist der Imp.1-Rüde Kalil of Silverdale (2000 - 2011), die Mutter Azenfouk (geb.2006) stammt aus der Region Menaka in Mali. Beide sind die Alpha-Tiere in einer gemischten Gruppe von damals elf Azawakhs zwischen drei und vierzehn Jahren mit drei Direktimporten und sieben F1-Nachkommen von Azawakhs aus den Ursprungsländern.  Die Niederkunft  am 64. Trächtigkeitstag verlief komplikationslos, menschliches Eingreifen war nicht notwendig. Es wurden ein Rüde (O'Noufou of Silverdale) und eine Hündin (Ofra of Silverdale) mit Ersttagsgewichten von 350 g und 400 g geboren. Örtlichkeit des Wurfs war das von den  Züchtern bewohnte Einfamilienhaus mit Nebengebäude in München mit Wintergarten und zwei für Hunde speziell eingerichteten Räumen sowie vier nach Bedarf trennbaren Spiel-, Ruhe- und  Lösebereichen im Freien. Den Azawakhs stehen Haus und Garten zur Verfügung, sie nehmen am Familienleben teil und folgen dabei in den Sozialbeziehungen eingeübten Verhaltensregeln. Je nach Alter und  individueller Neigung sind die Hunde bei Renn- und Coursingwettbewerben aktiv.
Das Verhalten der zwei Welpen wurde vom Tag der Geburt an bis zur Abgabe an die neuen Besitzer in der 11. bzw. 12. Woche schriftlich und fotografisch dokumentiert.

Zur Darstellung der altersabhängigen Verhaltensmuster  wurden alle Protokolle sowohl qualitativ als auch quantitativ folgendermaßen ausgewertet:
  • Aufschlüsselung von Verhaltensweisen und physiologischen Entwicklungsprozessen nach dem von Dr. Dorit Feddersen-Petersen erstellten Schema.
  • Gruppierung dieser Einheiten nach Zugehörigkeit zu Funktionskreisen sowie nach ihrem zeitlichen Auftreten im Entwicklungsverlauf.
  • Erstellung von vergleichenden Entwicklungsethogrammen.
Das folgende Beobachtungsprotokoll hält fest, an welchem Lebenstag innerhalb von acht Wochen der Azawakhwurf zum ersten Mal die bei Feddersen - Petersen, a.a.O., S. 73 - 84 unter I bis VII  benannten Verhaltensindikatoren gezeigt hat.

Entwicklungsprotokoll des Azawakhwurfs nach Lebenstagen (Bitte Grafiken anclicken)
 Entwicklungsprotokoll des Azawakhwurfs im Vergleich mit den bei Feddersen-Petersen dokumentierten Hunderassen und dem Wolf (Bitte Grafiken anclicken)
Der Vergleich zeigt auf, ob und inwieweit Abweichungen von den bei Feddersen-Petersen verfügbaren Daten für die Rassen Labrador, Golden Retriever, Siberian Husky, Großpudel, Zwergpudel und Schäferhund  und dem europäischen Wolf hinsichtlich des ersten zeitlichen Auftretens vorliegen. Die Daten erlauben u.a. Korrelationen zwischen einzelnen der  neun untersuchten Würfe in jeweiligem Bezug auf die 72 vorgegebenen Verhaltensindikatoren.

Der hier unternommene Versuch kann vorerst nur zu Thesen anregen. Deren  Prüfung und allfällige Vertiefung bleiben Sache der kynologischen Forschung. Im aktuellen Zusammenhang geht es darum, das Augenmerk auf erkennbare Besonderheiten von ursprünglichen Vertretern des canis familiaris zu richten.

Vorweg ist festzuhalten, dass die hier erhobenen Daten insgesamt eine vergleichsweise frühzeitige Verhaltensentwicklung der Azawakhwelpen belegen. Dies ist in den Bereichen II (Lokomotion), III (Komfortverhalten), IV (Orientierung), V (Stoffwechsel) und VIb (Ausdrucksverhalten zwischen den Welpen) besonders auffällig. In der Abteilung VII (Verhaltensweisen der unbelebten Umwelt gegenüber) sprengt die sehr frühzeitige "Flucht auf unbekannte Umweltreize" den dortigen Rahmen. Dies würde einer Eigenheit der Rasse entsprechen  - und hier ohne erworbene Negativerfahrungen mit  ungewohnten Szenarien. Vieles deutet im Vergleich mit den beobachteten Welpen der "Kulturrassen" darauf hin, dass der Azawakhwurf Anlagen zugunsten einer frühzeitigen Verselbständigung (wie in der Ursprungsregion üblich)  sowie die physischen und verhaltensmäßigen Voraussetzungen für die Nutzung als Lager-, Herden- und Jagdhund mitbringt. Die durchschnittliche Nähe zu den  Daten für die übrigen Rassen ist beim Siberian Husky am größten, in Bezug auf den Deutschen Schäferhund am geringsten.

Der Silverdale-Wurf verfügt über eine "desert bred" - Abstammung. Vergleichsbeobachtungen mit Azawakhwelpen aus europäischen Engzuchtlinien wären unter genotypischen Gesichtspunkten interessant.


Anhang: Notizen aus dem Beobachtungsprotokoll

Erste Umweltkontakte

Die Welpen reagieren ab dem  4.Tag auf Berührungsreize. Ab dem 5.Tag werden sie in  einem Korb zu Azenfouks Fütterung in die Küche mitgenommen. Sie beginnen, auf akustische Reiz zu reagieren, speziell auf die von Azenfouks Futterschüssel verursachten Geräusche. Ab dem 6.Tag befindet sich ein Hundebett in der Wurfkiste. Die Hündin Ofra versucht, über den ca. 15 cm hohen Rand zu klettern. Am 12. Tag mussten die Wände der Wurfkiste erhöht werden.

Ab dem 7.Tag: Besuche eines 14-jährigen Mädchens im Wurfzimmer. Sie bekommt die Welpen auf den Schoß gesetzt und streichelt sie. Azenfouk kennt sie gut, zeigt volles Vertrauen und fordert auch selbst Streicheleinheiten ein.
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Am 8.Tag: Die Welpen werden in den Wintergarten getragen und dort von einer 86-jährigen Bekannten besucht, Besuchsdauer 1 Stunde. Azenfouk verweigert ihr den Handkontakt mit den Welpen, besteht aber darauf, selbst gestreichelt zu werden.

Am 10.Tag: Die Augen beginnen sich zu öffnen. Bei der Hündin am 11.Tag vollzogen, beim Rüden am 12. Tag.

16.Tag: Ofra reagiert auf olfaktorische Reize. Auf den  Kaffeetisch gesetzt geht sie gezielt auf den Pflaumenkuchen zu und schleckt. Nimmt erstmals einen  Hundekuchen auf.
Selbst eine Nase aus dem Sahel lässt sich von Pflaumenkuchen verführen ;))
Ab der 4. Woche: Tagesaufenthalt der Welpen ist ein Teil des Wintergartens mit Hundebett, offener Flugbox und zwei Babysesseln. Bei schönem Wetter Zugang zum Garten mit Tunnelsystem, Ballbad, Muschel, Plastikfolien, Reizangel, Kletterturm, Bällen und großen Plüschtieren, weitläufigem Rasen, Bäumen, Gebüsch, Hecke, Steingarten und Laubhügeln.

Ab dem 17.Tag regelmäßiger Besuch einer 17-Jährigen mit ihrer Mutter und gelegentlich  ihrem 12-jährigen Bruder mit oft recht wilden Knuddelspielen. Besucher wurden angewiesen, stärkeres Beißen und Kratzen seitens der Welpen zu unterbinden (Schnauzengriff, lautes Verbot, Unterbrechen des Spiels). Dies war unsererseits schon ab dem 14.Tag so gehandhabt worden. Bei den hier beschriebenen Besuchen war nur eine einzige derartige Intervention seitens der Tochter nötig. Auch bei späteren Spielen mit Menschen haben die Welpen sodann grobes Zubeißen und Kratzen unterlassen. Bei allen Besuchen war die Mutterhündin dabei und hat für sich Zuwendung eingefordert. Ab der 4.Woche war auch der Vater des Wurfs anwesend.

Am 19.Tag erste Autofahrt der Welpen.

Verhalten der Mutterhündin

Azenfouk ist die ranghöchste Hündin im Rudel. Sie hat sich diese Position durch Dominanzäußerungen gegenüber den anderen Hündinnen Schritt für Schritt erarbeitet. Die Rüden ließ sie unbehelligt. Als anerkannte Chefin ist sie souverän und eher sanftmütig. In den ersten drei Wochen hat sie keine Hündin in Türnähe des Wurfzimmers geduldet. Am 8. Tag hatte Mila, eine fünfjährige Hündin, mit der sich Azenfouk gut versteht, aus Versehen Zugang zur Wurfkiste. Es erfolgte  sofort ein ernsthafter Angriff der Mutter, die nur mit Nachdruck zu beherrschen war.

Am 13.Tag kann ich mit Azenfouk erstmals das Grundstück verlassen. Während des dreißigminütigen Spaziergangs markiert sie, scharrt demonstrativ und hält Ausschau nach anderen Hunden. Diese werden mit gesträubtem Fell bedroht.

Zwischen Tag 15 und 21 verlangt die Mutterhündin zunehmend nach Ausgang, wobei sie    die Welpen unter ihrem  Bettlager zu verbergen sucht. Sie nimmt vermehrt die Gelegenheit wahr, sich auf einem Sessel zeitweise von den Welpen abzusondern.

Ab der dritten Woche erlaubt sie zunächst den Rüden die Kontaktaufnahme mit den Welpen, dann nach und nach den Hündinnen, wobei die älteste den ersten Zutritt hatte. Die Mutter  entfernt sich häufiger aus der Sichtweite der Welpen  und sucht Liegeplätze innerhalb des Rudels auf.

Am 19.Tag Beginn der Fütterung, Anlegen der Halsbänder. Bei der Fütterung werden die Welpen auf Pfeife, Lockruf  und Namen geprägt. Ebenso Einübung von "Sitz" und "Schau mal her". Ab der 5. Woche rezidiert zuerst die rechte Milchleiste. Azenfouk beginnt, für die Welpen Futter zu erbrechen, stellt dies jedoch bald ein.

Ab der 6.Woche zeigt sich Azenfouk zunehmend von den Aktivitäten der Welpen "genervt". Der Vater Kalil übernimmt immer mehr die Erziehungsaufgaben.

Fluchtverhalten, Reaktion auf andere Hunde

Ab dem 29.Tag wurde zum ersten Mal Fluchtverhalten beobachtet, zunächst bei ungewöhnlichen Geräuschen, dann auf unbekannten Bodenstrukturen und schließlich bei Begegnungen mit Rudelmitgliedern. Diese Fluchtreaktionen verschwanden innerhalb von zwei Wochen.

Ab dem 40.Tag trat Fluchtverhalten gegenüber fremden Menschen auf, beim Rüden mehr als bei der Hündin. Bei fremden Hunden gab es ein solches Verhalten nicht. Im eigenen Rudel zeigte der Rüde O'Noufou ab der 5. Woche dagegen Expensionstendenzen: Mit durchgedrückten Läufen, erhobener Rute und gesträubtem Fell inszenierte er Attacken auf den 5-jährigen und dann den 3-jährigen Rüden. Beide flüchteten. Der Versuch beim 10-jährigen Rudelchef, dem Vater, scheiterte. Der drückte ihn auf den Boden und verhinderte jede weitere Bewegung. Fluchtversuche endeten mit den gleichen und dann auf Dauer wirksamen Unterwerfungsaktionen.

Ab 45.Tag Ausführen der Welpen mit Leine und Brustgeschirr oder Halsband auf der Straße. Anders als die Hündin verweigert der Rüde am ersten Tag vor der Gartentür die Fortbewegung und schreit. Dies wiederholt sich auch beim Weitertragen und erneuten Versuchen. Am Tag darauf in Begleitung von Azenfouk: Die Mutterhündin ignoriert das Protestverhalten des Rüden und geht weiter und nun folgt ihr der Welpe schwanzwedelnd und an lockerer Leine. Ab diesem Zeitpunkt waren die Spaziergänge kein Problem mehr.
Beim ersten Ausgang mit dem Vater setzt sich O'Noufou mit Imponiergehabe an die Spitze, der Rudelchef drängt ihn mit Körpereinsatz, Knurren und Drohmimik zurück. Beim Versuch, über einer Markierung des Vaters Urin abzusetzen, wird O'Noufou auf offener Straße von ihm so lange zu Boden gedrückt, bis er schreit und jede Bewegung aufgibt. Diese einmaligen Interventionen des Rudelführers genügen für das künftige Verhalten.

48. Tag: Nachbarschaftsbesuch bei einem 6 Monate alten Riesenschnauzerrüden. O'Noufou betritt dessen Garten mit gesträubtem Fell in Imponierhaltung, bellt und knurrt mit gerunzeltem Nasenrücken und spitzen Mundwinkeln. Der Riesenschnauzer unterwirft sich aktiv, nimmt Spielhaltung ein und pfötelt. Es folgen einvernehmliche Rennspiele, die jeden  zweiten Tag wiederholt werden.

Ab der 6. Woche erfolgte ein mehr oder weniger gängiges Sozialisierungsprogramm mit    täglichen Autofahrten, Begegnungen mit neuen Menschen und Hunden und dem Tierarzt, das Aufsuchen von Geschäften und Verkehrszentren und mit Wohnungsbesuchen bei Bekannten und Verwandten.

Links:

Samstag, 8. Oktober 2011

Verstehen wir unsere Hunde wirklich? Interview mit Juliane Kaminski

Auf Hounds&People wurde jetzt ein Interview mit Dr. Juliane Kaminski, Biologin und Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig veröffentlicht. Vielen wurde sie bekannt durch ihre Forschung mit Rico, dem Border Collie aus der Sendung "Wetten das...?", der selbständig neue Begriffe erschließen kann. Das war bis dato eine Fähigkeit, die man nur Menschen zutraute.

Im Interview mit Hound&People gibt Juliane Kaminski einige hochinteressante Hinweise , die ich nur jedem Hundefreund und Hundehalter wärmstens ans Herz legen kann. Sie dienen nicht nur dem besseren Verstehen unserer Hunde (und von uns selbst), stellen aus meiner Sicht auch sehr wertvolle Hinweise für den Alltag dar, wertvoller als manches 300-Seiten-Hundererziehungsbuch!
In diesem Experiment erhalten Hundewelpen durch Zeigen auf zwei identisch aussehende Gefässe einen Hinweis auf das Versteck des Futters .
Foto: Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Max-Planck-Instituts

Dienstag, 4. Oktober 2011

Frühe Verhaltensentwicklung bei einem Azawakhwurf, Teil 1/2

von Elisabeth Naumann, www.azawakhs.eu

Als eine der wenigen noch anzutreffenden ursprünglichen und unter natürlichen Selektionsbedingungen und Gebrauchskriterien entstandenen Hunderassen zeigen Azawakhs in vielfacher Hinsicht Verhaltenseigenschaften, die in dieser Ausgeprägtheit bei neu geschaffenen "Kulturrassen"  kaum angetroffen werden. Die Verfasserin dieses Beitrags (Fachlehrerin für Gesundheits- und Krankenpflege, seit 2000 Züchterin von autochthonen Azawakhs und Teilnehmerin an Feldforschungen in den Ursprungsländern), stellt sich die Frage, ob und inwieweit die von ihr dokumentierten Entwicklungs- und Verhaltensabläufe  in  einem Azawakhwurf  mit solchen Rasseeigenschaften ontogenetisch korrespondieren. Angeregt wurde dies durch die Untersuchungen von  Dr. Dorit Feddersen-Petersen in "Hunde und ihre Menschen", 2. Auflage, Kosmos Verlag Stuttgart 2001 (vgl. S. 70  -  71.)  Schon in Hinblick auf das einzelne Sample kann der vorliegende Versuch nur ein Anstoß für weitergehende empirische Bemühungen sein. Er dürfte aber einiges Erkenntnisinteresse beanspruchen, nachdem die neuere kynologische Forschung dazu tendiert, den pränatalen Rahmendaten und den ersten Lebenswochen eines Hundewurfs eine  größere Aussagekraft als dem heute allgemein angestrebten Sozalisierungserfolg durch das Eingreifen des Menschen zuzuordnen.

Zum Verständnis des vermuteten Zusammenhangs zwischen frühzeitigen Verhaltenstendenzen in einem Azawakhwurf und dem Charakterprofil der Rasse  ist ein Blick auf deren Entwicklungsgeschichte angezeigt.

Herkunft

Steppen, Savannen und Halbwüsten am Südrand der Sahara sind die Stammheimat des Azawakhs. Dieses Region hat in etwa die Größe Frankreichs und umfasst Staatsgebiete der heutigen Republiken  Mali, Niger und Burkina Faso  Sie ist Bestandteil der Sahelzone, eines zirka 200 bis 300 km breiten Halbtrockengürtels, der sich vom Atlantischen Ozean bis zum Horn von Afrika quer über den gesamten Kontinent erstreckt. Im sogenannten Mittleren Nigerbecken liegt das Wadi Assouagh  - ein zirka 40 km breites und mehr als 1000 km langes, schon seit langer Zeit trockenes Urstromtal. Seinen Namen  wählte man in Europa als Rassebezeichnung, weil erste Importe aus Randgebieten des "Azawakhtals" stammten. In Frankreich, der ehemaligen Kolonialmacht, wurde 1980 in Anlehnung an die wenigen Erstimporte eine Beschreibung erstellt und als "Rasse-Standard" bei der FCI hinterlegt. Als Züchter und Halter in der Ursprungsregion galten dabei die Tuareg. Tatsächlich aber ist der Hund seit eh und je Bestandteil der Lebens- und Wirtschaftsweise aller dort beheimateten  nomadischen Ethnien. Primärer Gebrauchszweck der Azawakhs war es, die Herden, das Lager und dessen Angehörige vor Raubtieren und unwillkommenen Fremden  zu schützen. Diese Funktion der Hunde hat die Verhaltensweise der Rasse weit mehr als die Nutzung ihres Hetztriebs für die bei der Oberschicht geschätzten, aber seit langem nicht mehr existierenden Gazellenjagd geprägt.
Azawakh Vater, Mutter und ein Welpe
Traditionelle Haltung und Zucht

Die Betreuung der Herden war wie alle Handarbeit innerhalb der Tuareg-Hierarchie Aufgabe von Leibeigenen und Angehörigen unterworfener und akkulturierter Volksgruppen (Kel Tamaschek). Aufzucht, Haltung, Versorgung und alltäglicher Arbeitseinsatz der Hunde gehörten zu ihren Dienstbarkeiten. Als Folge des sozialen und ökonomischen Strukturwandels in den Tuareg-Oberschichten seit dem vergangenen Jahrhundert sind es heute vor allem die Nachkommen der ehemals abhängigen Bevölkerungsteile und Ethnien, die ihren Lebensunterhalt weiterhin durch kleinteilige nomadische Viehwirtschaft bestreiten. Sie setzen die traditionelle Azawakh-Haltung fort. Diese ist  den kärglichen Lebensumständen der Menschen angepasst, die ihre eigene Nahrung - Milch und Hirse - im Rahmen der  Möglichkeiten mit den Hunden teilen. Nach gelegentlichen Jagden auf Wildschweine oder Hasen oder dem seltenen  Schlachten einer Ziege gibt es Eingeweide und Knochen für die Hunde. Kleintiere der Savanne wie Erdhörnchen und Echsen dienen zur Aufbesserung ihrer Nahrung. In der Regel überstehen nur einige wenige Rüden zur Ergänzung des familieneigenen Hundebestands oder auf Wunsch künftiger Abnehmer die Wurfselektion. Erst bei Bedarf wird eine Hündin für die Weiterzucht aufgezogen. Erweist sich ein Hund als ungeeignet, sich in die Regeln des Zusammenlebens mit Mensch und Herde einzufügen, überlebt er nicht. Kranke oder ihren Aufgaben nicht gewachsene Tiere finden ebenfalls schnell ein natürliches oder durch Fütterungsentzug herbeigeführtes Ende. So ist die Rasse im Ursprungsland das Resultat einer strengen, am Gebrauchswert orientierten Auslese.

Die Azawakhs des Sahel stellen eine "reinblütige" Landrasse dar, die sich in diesen abgeschiedenen Regionen unvermischt erhalten hat. Sie sind in derartigen Isolaten die einzigen Vertreter ihrer Spezies. An den Rändern der Wanderungs- und Siedlungsgebiete der Tuareg-, Bella- und Peul-Nomaden leben Azawakhs auch in den Dörfern bäuerlicher Volksgruppen, etwa der Haussa. Die Existenzgefährdung der Rasse  durch weitere wirtschaftliche, soziale und kulturelle Veränderungen und mit der Erschließung durch Handels- und Verkehrswege  wird auf Dauer zwar unvermeidlich sein, angesichts afrikanischer Modernisierungsresistenz aber nur einen langsamen Gang nehmen. Im Unterschied hierzu sind die aus wenigen Importen der 1970er- und 1980er- Jahre in Europa aufgebauten Bestände durch die Folgen von fortgesetzter In- und Engzucht akut gefährdet. Dies zeigt sich nicht nur in der von einer Züchtermehrheit im Rahmen des "Show-Business" erstrebten Übertypisierung bei Verzicht auf die ursprüngliche Funktionalität und unter Hinnahme hoher, von Dispositionen für Erbdefekte begleiteter Ahnenverlustraten, sondern auch in Veränderungen bei Vitalität und Sozialverhalten. Der hier beobachtete O-Wurf "of Silverdale" entstammt dem Versuch, die Rasse außerhalb ihres Ursprungsgebiets durch den aktuellen Einsatz von Importen aus dem Sahel genetisch überlebensfähig zu erhalten. Der Inzuchtkoeffizient des Wurfes beträgt 0,00%, der Ahnenverlustkoeffizient 100.

Eigenschaften 

Die natürliche Auslese hat mit dem Azawakh einen Hund geschaffen, der sich durch  physische Härte, Robustheit, Genügsamkeit und einen starken Selbsterhaltungsinstinkt auszeichnet. Azawakhs im Ursprungsgebiet müssen bisweilen trocken-heiße Temperaturen von 40 Grad Celsius und mehr ertragen und sogar gelegentliche Werte unter dem Gefrierpunkt. Sie trotzen Sandstürmen ebenso wie Wassermangel und Futterknappheit. Sie gehören damit zu den überlebenskräftigsten Hunderassen. Unter den Umweltbedingungen der Sahelzone ermöglicht dies ein  Höchstalter von vier bis sechs Jahren mit jährlicher Trächtigkeit der Hündinnen ab der ersten Hitze und einer entsprechend raschen Generationenabfolge. Neben nomadischer Mobilität trägt auch dies zur Erhaltung der genetischen Variabilität selbst innerhalb örtlich konstanter Bestände bei.  Die Lebenserwartung des Azawakhs unter hiesigen Bedingungen bewegt sich zwischen zehn und fünfzehn Jahren.
Vater mit beiden Welpen
Da unter den Gegebenheiten ihrer Heimat Wachsamkeit, Skepsis und  Misstrauen allem Fremden und Unbekannten gegenüber lebenserhaltend sind, ist das Wesen der Azawakhs in der Regel durch eine scheinbar "vornehme" Zurückhaltung Neuem gegenüber gekennzeichnet. Der Hund tendiert dazu, sich auf eine oder mehrere Bezugsperson(en) zu fixieren - und dies oftmals mit der Tendenz zur Ausschließlichkeit. Azawakhs können  in ihren individuellen Wesenszügen dennoch sehr unterschiedlich sein. Die Spannbreite reicht von extrem misstrauischen ("scheuen") Exemplaren über neutral-zurückhaltende oder gleichmütige Charaktere bis hin zu ausgesprochen freundlichen, extrovertierten Individuen, die allen Menschen überschwänglich zugetan sein können. Diese vor allem in der Ursprungsregion zu beobachtenden Verhaltensunterschiede mögen unter anderem auf das weite Spektrum  des Erbguts zurückzuführen sein, mit dem die dortige Population ausgestattet ist. Die hier angebotene Untersuchung lässt ebenso wie die Vorlagen bei Feddersen-Petersen derartige Verhaltensvariationen, die innerhalb eines Wurfs auftreten können, außer Acht. Registriert wird hier jeweils der früheste Zeitpunkt einer Manifestation. Insofern spielen  die Wurfstärken bei diesen ersten Ansätzen methodologisch keine Rolle.

Generell ist der Azawakh ein Hund, der für die Kommunikation mit und die Prägung durch seine(n) Menschen sehr offen, das heißt in mannigfacher Richtung formbar ist. Ein Azawakh widerspiegelt -  neben seinen ererbten Veranlagungen - sehr deutlich das materielle und familiäre Ambiente, die Sorgfalt und Zuwendung und die Fähigkeiten und Kenntnisse, die ihre Züchter und Besitzer eingebracht haben. Es versteht sich von selbst, dass eine frühzeitige Sozialisation mit möglichst vielen fremden Menschen und neuen Situationen bei dieser Rasse ein Muss ist, wenn das Zusammenleben in unserer westlichen Zivilisation für Mensch und Hund zufriedenstellend verlaufen soll.

Was von vielen Azawakh-Haltern, besonders solchen, die aus der Windhund-Szene kommen, oft verkannt wird, ist der stark ausgeprägte Besitzanspruch mit einem gehörigen Maß an Verteidigungsbereitschaft, die nicht als Aggressivität  missdeutet werden sollte. Diese Eigenschaften machen sich primär innerhalb des eigenen Territoriums bemerkbar und tragen eher defensive Züge. Man muss sich bewusst sein, dass Azawakhs in erster Linie Lager-, Wach- und (ziemlich unüblich aussehende) "Herdenschutzhunde" waren und sind und erst in zweiter Linie Jagdhunde. Da die freie Jagd mit Windhunden nur noch in wenigen europäischen und überseeischen Ländern möglich ist, passen sie bei uns eigentlich auch besser zu Leuten, die das Zusammenleben mit eigenständigen Arbeitshunden schätzen. Bahnrennen und Coursings kommen den natürlichen Anlagen des Azawakhs entgegen.
Azawakhs sind nach menschlichen Begriffen schlau, einfallsreich und eigenständig genug, innerhalb einer Gruppe selbst das Regiment zu übernehmen, wenn man sie nicht von klein auf mit sehr konsequenter Beharrlichkeit, aber ohne Härte und Drill erzieht, ihnen also begreiflich macht, was sie tun sollen und was nicht. Die ausgeprägte Expansionstendenz im Sinne ihres Überlebens- und Komfortinstinkts erfordert vom Besitzer "Hundeverstand" und Durchsetzungsvermögen neben Geduld und Feingefühl. Von kundigen Besitzern lassen sich Azawakhs gut ausbilden und zeigen sich meist  ausgesprochen lernfreudig. Sie können zum Beispiel auch daran gewöhnt werden, sich ohne Leine in der Öffentlichkeit zu bewegen und selbst bei hohen Ablenkungsreizen zuverlässig mit ihrem Menschen, dem "Meutenchef", zu kooperieren. Begleithundprüfungen im Sinne des hiesigen Hundewesens können sie durchaus absolvieren.

Azawakhs haben, neben einem unterschiedlich stark ausgeprägten oder geförderten Hetztrieb, ein natürliches Bewegungs- und Beschäftigungsbedürfnis, dem Rechnung getragen werden muss - entweder durch kontrollierten Freilauf, zum Beispiel neben Rad oder Pferd, durch  Rennbahn-Training und durch gemeinsames Arbeiten mit dem Besitzer, etwa in Form von Agility-Spielen. Bei entsprechender Sozialisation und Einübung  können Azawakhs sowohl mit Kindern als auch mit Hunden anderer Rassen und mit sonstigen Haustieren friedlich zusammenleben. Dabei ist freilich der überkommene Beschützertrieb des Lager- und Herdenhunds zu beachten.

nächste Woche dann Teil 2/2
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Verhaltensentwicklung bei einem Azawakhwurf in den ersten acht Lebenswochen - ein ontogenetischer Beitrag aus der Züchterpraxis