Am Morgen des 26. Dezembers 2019 wurde die Polizei in Bellingham, US-Staat Washington, nach Meldungen über Schüsse in die Wohnung von Kevin und Lynn Heimsoth gerufen. Sie fanden Lynn Heimsoth, die Direktorin der örtlichen Grundschule, tot vor. Nachdem er seine Frau getötet hatte, erschoss sich Mr. Heimsoth, aber er starb nicht. Die Polizei fand auch die Leichen von Sukha, dem Therapiehund, den Frau Heimsoth immer für die Kinder mit in die Schule genommen hatte, sowie die Katze der Familie. Kevin Heimsoth wurde wegen Mordes und Tierquälerei angeklagt.
Laut Thomas Joiner, Psychologe an der Florida State University, ereignen sich in den USA jede Woche zwischen 11 und 17 Mord-Suizide. Was die Schießerei in Bellingham so ungewöhnlich machte, war, dass darüber hinaus zwei der Opfer Tiere waren. Nachrichten über Menschen, die ihre Haustiere töten, bevor sie sich selbst das Leben nehmen, sind selten.
Eine von mir durchgeführte Analyse legt jedoch nahe, dass diese Vorfälle erheblich häufiger auftreten als bekannt ist. Und sie werfen wichtige Fragen auf. Erhöhen sich beispielsweise die Zahlen aufgrund von COVID-19? Und warum beinhalten so viele dieser Fälle sowohl einen Mord als auch einen Suizid?
"Erweiterter Suizid mit Haustieren"
Es wird manchmal behauptet, dass Haustiere Suizide verhindern. Aber, wie ich kürzlich ausgeführt habe, gibt es kaum Belege für diese Annahme. In einem kürzlich in der Zeitschrift Anthrozoos veröffentlichten Artikel stellte ein Team australischer Forscher unter Leitung von Dr. Janette Young fest, dass viele ältere Menschen meinen, dass ihnen ihre Haustiere Sinn im Leben schenken. Sie befragten sie zu ihren Beziehungen zu ihren Haustieren. Überraschend berichtete ein Drittel der Tierhalter spontan, ihre Haustiere hätten dazu beigetragen, dass sie keinen Suizid begingen. Die Forscher wiesen allerdings ebenso auf die Schattenseiten der Verbindung zwischen Haustier und Suizid hin, etwa wenn Menschen ihre Haustiere töten, bevor sie sich selbst das Leben nehmen.
Dieses Phänomen wurde lediglich in zwei kleinen Studien angeschaut. Im ersten Artikel aus dem Jahr 2013 beschreibt Dr. Brian Cooke sieben Fälle aus den amerikanischen Medien, in denen Menschen ihre Hunde und dann sich selbst töteten. Cooke nennt diese Fälle "erweiterte Suizide mit Haustier". Einige Jahre später berichteten der Anthrozoologe James Oxley und seine Kollegen über drei weitere Fälle in Großbritannien.
Wir streicheln und wir essen sie: Unser paradoxes Verhältnis zu Tieren (auf Deutsch im Hanser Verlag erschienen) |
Das Durchkämmen von Medienberichten ist die einzige Methode, mit der solche Suizide unter Beteiligung von Haustieren bisher untersucht wurden. Mithilfe von Internet-Suchmaschinen habe ich 30 Artikel in amerikanischen Zeitungen gefunden, die zwischen 2010 und 2020 veröffentlicht wurden und von erweiterten Suiziden mit Hunden oder Katzen berichteten. Die sieben von Cooke gemeldeten Vorfällen dazu genommen, enthielt meine Datenbank schließlich 37 Suizide mit Haustieren in den Vereinigten Staaten. Bei einer so großen Stichprobe entstanden einige Muster.
Die tragischen Statistiken sprechen für sich:
Die Zahlen. Insgesamt starben in den 37 Fällen 81 Menschen. Dazu zählten 28 Männer, 33 Frauen und 20 Kinder. Darüber hinaus wurden 74 Hunde und drei Katzen getötet.
Die Opfer. Unerwarteterweise waren 80 Prozent der Fälle Mord-Suizide. In all diesen Fällen handelte es sich bei den menschlichen Opfern um Familienmitglieder oder langjährige Partner. Bei 85 Prozent der Mord-Suizide zählte zu den Opfern ein Ehepartner oder eine Freundin. In 11 Fällen wurden zudem ein oder mehrere Kinder ermordet. Zwei Männer wurden von ihren Frauen getötet, ein Mann von seiner Schwester und zwei Mütter von ihren erwachsenen Kindern.
Haustierarten. In allen 37 Fällen starb ein Hund. In drei Fällen wurde dazu die Familienkatze getötet. Der extremste Vorfall betraf eine Tierschutzbeauftragte aus Ohio, die ein Tierheim betrieb. Sie tötete sich selbst und 32 kleine Hunde, indem sie den Motor ihres Auto in einer geschlossenen Garage laufen ließ. Ein Hund überlebte.
Geschlecht und Alter der Täter. Siebzig Prozent der Mordfälle wurden männlichen Tätern und 15 Prozent Frauen zugeschrieben. In den anderen 15 Prozent wurde die Person, die der Täter war, im Medienbericht nicht genannt. Das Durchschnittsalter der Täter betrug 47 Jahre. Die jüngste war eine 32-jährige Mutter, die an einer Wochenbett Depression litt. Sie tötete ihren Mann, ihr drei Monate altes Kind und den Familienhund, bevor sie die Waffe auf sich selbst richtete. Die ältesten Opfer waren ein Ehepaar. Sowohl der Ehemann als auch die Ehefrau waren zum Zeitpunkt der Schießerei 83 Jahre alt. Sie haben auch ihren Hund mit in de Tod genommen.
Methoden. Waffen wurden bei allen Mord-Suiziden mit einer Ausnahme eingesetzt. Ausnahme war ein von Cooke (2013) beschriebener Fall, in dem ein Mann sich selbst, seine 16-jährige Tochter und ihren Hund in einem Minivan per Kohlenmonoxidvergiftung tötete. Waffen wurden jedoch nur in zwei der sieben Fälle von erweiterten Suiziden mit einem Haustier eingesetzt, in denen jedoch kein Mord begangen wurde. Die Methoden ohne Waffen waren das Springen von einer Brücke, das Fahren des Autos in einen See, eine Überdosierung von Tabletten, das Werfen vor einen Zug sowie eine Kohlenmonoxidvergiftung.
Motive. Die Medienberichte geben wenig Aufschluss darüber, warum Einzelpersonen ihre Haustiere und Familienmitglieder töteten, bevor sie sich selbst töteten. Zwei der Opfer wurden als depressiv gemeldet. In nur zwei Fällen, wo an beiden ältere Paare beteiligt waren, schien es, dass der Tod das Ergebnis eines Suizidpaktes gewesen sein könnte.
Fehlgeschlagene Versuche. In vier Fällen wurde der Suizid verpfuscht. In drei Fällen starben die Haustiere, nicht jedoch die suizidale Person. Der andere Fall betraf einen Suizid mit Kohlenmonoxid (Auto), bei dem der Mitbewohner des Verstorbenen und sein Hund offenbar aus Versehen mit starben.
Was können wir aus diesen Fällen lernen?
Erweiterte Suizide mit Haustieren spiegeln ein allgemeines Muster wider: Laut einem kürzlich veröffentlichten Beitrag des Bloggers Joni Johnston von Psychology Today, sind die Täter von Mord-Suiziden in der Regel Männer und die Opfer in der Regel Frauen. In jedem vierten Fall gibt es mehrere Opfer, von denen etwa 10 Prozent Kinder unter 16 Jahren betreffen.
Die Fälle, in denen ich Haustiere gefunden habe, passen genau zu diesem Muster. Darüber hinaus haben Täter von Mord-Suiziden in der Regel psychische Probleme, es finden sich familiäre Gewalt und unerwünschte Erlebnisse. Aber im großen Ganzen gaben die Medienberichte, die ich fand, wenig Einblick in den psychologischen Zustand der Täter.
Menschen betrachten ihre Hunde wirklich als „Familienmitglieder“. Zwischen 70 und 90 Prozent der Amerikaner fühlen so. In ungefähr 39 Prozent der Haushalte in den USA leben Hunde, in 25 Prozent Katzen. Aber warum waren 95 Prozent der Tiere in den hie beschriebenen Fällen Hunde im Vergleich zu nur drei mit Katzen? Außerdem wurde in keinem Fall eine Katze getötet, ohne dass auch der Familienhund starb. Das stark verzerrte Verhältnis von Hunden zu Katzen, die von Suizidalen getötet wurden, legt nahe, dass Hunde, jedoch nicht Katzen, als Familienmitglieder angesehen werden, wenn es um erweiterte Suizide geht.
Nur die Spitze des Eisbergs?
Im vergangenen Jahr starben etwa 48.000 Amerikaner durch Suizid. Davon sind lediglich 0,5 Prozent Mord-Suizide. Dies wirft die Frage auf, warum 80 Prozent der Suizide, bei denen ein Haustier getötet wurde, auch mit einem Mord verbunden sind. Der Grund für diese enorme Schräglage ist die selektive Berichterstattung in den Medien. Die ganz überwiegende Mehrzahl der Suizide in den USA erhält keine Schlagzeilen; Mord-Suizide dagegen schon. Sogar manche der acht Fälle, in denen nur der Halter und ein Haustier starben, hatten darüber hinausgehendes News-Potenzial. So handelte es sich bei einem um einen bekannten Country-Musikstar, bei einem wetieren um den Tod vor einem Zug. Und im letzten Fall setzte der Tierhalter auch noch sein Haus in Brand, nachdem er seinen Hund erschossen hatte.
Kurz zusammengefasst:
Die Statistiken über Suizide mit Beteiligung eines Haustieres basieren auf Presseberichten. Schlussfolgerung ist, dass diese Fälle lediglich die Spitze eines großen Eisbergs widerspiegeln können. Wenn ich richtig liege, werden wahrscheinlich jedes Jahr Hunderte, vielleicht Tausende von Haustieren bei Suiziden getötet, die eben nicht für Schlagzeilen sorgen und daher in keiner Statistik auftauchen.
Schließlich sagen die Forscher in einem kürzlich erschienenen Artikel in JAMA Psychiatry einen starken Anstieg der Suizide aufgrund der COVID-19-Pandemie voraus. In der Tat sagen sie, dass das derzeitige Zusammentreffen von sozialer Isolation, wirtschaftlichem Stress, eingeschränktem Zugang zu gemeinschaftlicher und religiöser Begleitung und Hindernissen hinsichtlich psychosozialer Dienste, „ein perfekter Sturm“ für Suizid ist. Die Frage ist, wie vielen Haustieren als Kollateralschaden dabei Leid zugefügt werden wird.
(Seit Anfang dieses Jahres gab es in den USA fünf Presseberichte über Suizide mit Haustieren. Sie führten zum Tod von vier Männern, fünf Frauen, sieben Kindern, zehn Hunden und einer Katze.)
* von Hal (Harold) Herzog Ph.D.
Professor Emeritus
Department of Psychology
Western Carolina University (USA)
Hal ist einer der führenden Wissenschaftler zur Mensch-Heimtier-Beziehung. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Artikel und einige populäre Bestseller veröffentlicht.
Dieser Artikel erschien am 27.04.2020 im Original als:
"SUICIDE - How Many People Who Die By Suicide First Kill Their Pets?
COVID-19 will result in more suicides. What will the impact be on pets?"
im Blog von Hal: Animals and Us auf Psychology Today
Veröffentlichung auf Petwatch und Übersetzung ins Deutsche mit freundlicher Genehmigung von Hal Herzog - besorgt durch Christoph Jung